Medikamentenentwicklung: Von der Idee zur Therapie – und warum Medikamente so teuer sind

16.10.2024

Im Jahr 2019 machte das Medikament Zolgensma® Schlagzeilen als das teuerste Medikament der Welt (siehe Abbildung 1). Anders als die meisten Medikamente soll es nur ein einziges Mal bei Kindern mit spinaler Muskelatrophie angewendet werden und damit das Kind heilen. Eine Behandlung kostet über 2 Millionen Dollar.

Ob dieser Preis gerechtfertigt ist?

Um das einschätzen zu können, sollten wir uns erst einmal mit der Erkrankung spinale Muskelatrophie und dem Ablauf von Medikamentenentwicklungen beschäftigen.

Presseüberschriften über Zolgensma
Abbildung 1 Überschriften aus der Presse.

Was ist spinale Muskelatrophie?

Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erbkrankheit, bei der die Motoneurone im Rückenmark wegen eines Genfehlers ihre Funktionen verlieren. Dadurch kann das Gehirn keine Botschaften an die Muskeln weiterleiten, weshalb die Muskeln nach und nach verkümmern. Die Erkrankung kann bereits bei Neugeborenen diagnostiziert und somit frühzeitig behandelt werden. Von spinaler Muskelatrophie Betroffenen fällt es im Laufe der Zeit immer schwerer zu essen, zu schlucken, zu sprechen und zu atmen. Werden sie nicht behandelt, können sie innerhalb weniger Jahre sterben. Die spinale Muskelatrophie vom Typ 1 ist eine besonders schwere Variante, bei der erkrankte Kinder unbehandelt meist schon vor dem 2. Lebensjahr sterben.

Um dies zu verhindern, wurde Zolgensma® entwickelt. Bei dem Medikament handelt es sich um eine Gentherapie, bei der das defekte Gen durch eine funktionierende Kopie ersetzt wird. Dadurch kann der Körper wieder das Protein produzieren, das für die Kommunikation von Gehirn und Muskeln notwendig ist. Ziel ist es, die erkrankten Kinder vollständig zu heilen und ihre Muskelfunktionen wiederherzustellen. Die Entwicklung von Zolgensma® stellt daher einen großen Fortschritt dar. Doch wie finden Forschende heraus, welche Wirkstoffe für eine bestimmte Krankheit geeignet sind, und wie verläuft der Weg von der Idee zum fertigen Medikament?

Zufallsfunde

Manche lebensverändernden Medikamente wurden zufällig entdeckt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Penicillin. 1928 untersuchte Sir Alexander Fleming Staphylokokken, als eine Probe durch Pilzsporen verunreinigt wurde. Er bemerkte, dass dort, wo der Pilz wuchs, keine Bakterien existierten. Weitere Experimente zeigten, dass der Pilz ein Gift produzierte, das die Staphylokokken abtötete. Jahre später rettete das Antibiotikum viele Menschenleben.

Weniger bekannt ist die Entdeckung eines neuen Einsatzgebietes für den Beta-Blocker Propranolol, der normalerweise bei Herzerkrankungen eingesetzt wird. Christine Léauté-Labrèze behandelte einen Säugling mit einem Hämangion im Gesicht, besser bekannt als Blutschwamm. Als der Säugling wegen Herzproblemen Propranolol erhielt, bemerkte die Ärztin, dass der Blutschwamm verblasste und schrumpfte. Heute ist Propranolol offiziell für diesen Zweck zugelassen.

Solche Zufallsfunde sind großartig und haben die Medizin vorangebracht. Doch allein auf Zufälle zu setzen, würde uns nicht die Vielzahl an Therapiemöglichkeiten bieten, die wir heute haben.

Wie werden Medikamente entwickelt?

Um neue Wirkstoffe zu finden könnte man einfach verschiedene Therapiemöglichkeiten bei den Erkrankungen auf gut Glück ausprobieren (Trial-and-Error-Prinzip). Doch das würde viel länger dauern als gezielt nach potentiellen Wirkstoffen zu suchen und es wäre teurer. Heutzutage wird an die Entwicklung von neuen Wirkstoffen sehr systematisch herangegangen. Und doch wird von knapp 10.000 Wirkstoffmolekülen nur 1 als neues Medikament zugelassen und in der Therapie von Erkrankungen eingesetzt.

Begonnen wird die Medikamentenentwicklung oft damit, dass mögliche Wirkstoffmoleküle am Computer designt werden. Dabei schauen sich WissenschaftlerInnen die Zielstruktur an, sogenannte Targets, an die der Wirkstoff binden und entsprechend wirken soll (dafür sollte der Mechanismus einer Erkrankung möglichst genau bekannt sein). Zu diesem Target passend werden Moleküle entworfen. Dieser Fachbereich nennt sich Molecular Modeling.

Im Anschluss werden die potentiellen Wirkstoffmoleküle im Labor hergestellt und die Wirkung inklusive möglicher Risiken geprüft. Um die Anzahl an Tierversuchen zu reduzieren, führen WissenschaftlerInnen möglichst viele Tests an isolierten Zellen, Zellkulturen, Enzymsystemen oder isolierten Organen durch. Das sind sogenannte Ersatzverfahren.

Daran schließen sich Tierversuche an, bei denen Forschende unter anderem prüfen, ob der Wirkstoff giftig ist, wenn er über einen längeren Zeitraum verabreicht wird und ob sich Parameter wie der Blutdruck, die Herzfrequenz etc. durch den Wirkstoff verändern.

Bevor ein Wirkstoff in der klinischen Prüfung an Menschen getestet wird, wird mit dem Wirkstoff eine Formulierung entwickelt. Das kann man sich ein bisschen wie ein Kochrezept vorstellen, für das man die Hauptzutat z.B. einen Kürbis hat und sich dann überlegt wie man diesen verarbeiten möchte: Als Ofengemüse, Püree, als Brot. Dafür benötigt man immer noch weitere Zutaten wie Öl, Milch und Mehl. Übertragen auf Medikamente sind das die Hilfsstoffe. Eine Tablette, Kapsel, ein Saft, aber auch Infusionslösungen und alles, was gespritzt wird besteht immer aus mindestens einem Wirkstoff und zusätzlich aus Hilfsstoffen.

Nun braucht man noch eine Anleitung um den Kürbis und die weiteren Zutaten zu verarbeiten — Kürbis waschen, schneiden, Ofen auf 180°C vorheizen, Kürbis 10 Minuten im Ofen backen, dann herausnehmen und pürieren und so weiter.

Bei der Medikamentenentwicklung beschäftigt sich die pharmazeutische Technologie damit, welche Hilfsstoffe am besten für die Herstellung des jeweiligen Medikaments geeignet sind, wie die Formulierung (Zutatenliste) eines Medikaments optimal zusammengesetzt und wie es hergestellt werden sollte (Zubereitungsanleitung).

Die klinische Prüfung

Bis zur klinischen Prüfungen schaffen es von den ursprünglichen 10.000 Molekülen nur 5-10 Moleküle (siehe Abbildung 2). Die klinischen Prüfungen Phase I bis IV sind gesetzlich vorgeschrieben, um zu beweisen, dass ein Medikament wirksam und sicher ist. Damit diese überhaupt durchgeführt werden dürfen, müssen sie genehmigt werden. Denn ab diesem Punkt werden Menschen die potentiellen Medikamente testen. Und dafür müssen gewisse Bestimmungen eingehalten werden.

In klinischen Prüfung Phase I erhalten im Normalfall junge gesunde Personen (ProbandInnen) das Medikament. Diese Studie dient dazu herauszufinden,

  • ob der Wirkstoff gut verträglich ist
  • ob der Wirkstoff im menschlichen Körper die gleiche Wirkung erzielt wie im tierischen (z.B. senkt den Blutdruck)
  • ob der Wirkstoff unerwartete Wirkungen im Körper hervorruft und daher vielleicht auch zur Behandlung anderer Erkrankungen in Frage kommt
  • welche Dosierungen des Wirkstoffs möglich sind

Erst ab der Phase II nutzen erkrankte Personen (PatientInnen) das Medikament. Dabei liegt der Fokus vor allem darauf, die richtige Dosierung zu finden, die Wirksamkeit nachzuweisen und festzustellen welche Nebenwirkungen auftreten können. Wenn die Phase-II-Studie erfolgreich ist und das Medikament die Erkrankung bessert, werden viele weitere PatientInnen in die Phase-III-Studie aufgenommen. Die Forschenden wollen dann herausfinden, ob das Medikament auch bei einer großen Gruppe von PatientInnen wirkt, auch bei Menschen mit mehreren Erkrankungen. Zudem werden sie untersuchen, ob weitere Nebenwirkungen auftreten, wenn das Medikament über einen längeren Zeitraum verabreicht wird.

Erst, wenn in der Phase-III-Studie gezeigt wurde, dass das Medikament wirksam und sicher ist und somit der Nutzen das Risiko für den Menschen überwiegt, darf dieses zugelassen werden. Dann steht es auch anderen Erkrankten zur Verfügung steht. Diesen Schritt schafft nur 1 von den ursprünglichen 10.000 Wirkstoffmolekülen.

Abbildung 2 Medikamentenentwicklung – von knapp 10.000 Molekülen wird nur 1 Molekül auf dem Markt als Medikament zugelassen (vgl. Geisslinger, Gerd, et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen. 2020. Auflage 11. S. 155).

Was kostet die Medikamentenentwicklung?

Der ganze Prozess, beginnend mit der Wirkstoffentwicklung über die präklinischen Versuche bis zu den klinischen Studien Phase I bis III kostet die Pharmaunternehmen 1-2 Milliarden Euro.

Diese riesige Menge Geld wollen Pharmaunternehmen schnellstmöglich wieder einnehmen. Man könnte meinen, dass die Pharmaunternehmen viele Jahre Zeit haben, um so viel Geld zu verdienen, damit sich das neue Medikament für sie lohnt. Doch an der Stelle, an der ein Medikament zugelassen ist, von ÄrztInnen verschrieben werden kann und Pharmaunternehmen an dem Medikament Geld verdienen können, kommt das Patentrecht ins Spiel.

Hat ein Pharmaunternehmen einen neuen Wirkstoff entwickelt, lässt es sich den Wirkstoff patentieren. Folglich dürfen andere Pharmaunternehmen den Wirkstoff nicht herstellen und daraus ein Medikament entwickeln. Der Patentschutz gilt nur für eine begrenzte Zeit und beginnt bereits in einer frühen Phase der Medikamentenentwicklung. Es kann jedoch bis zu 15 Jahren dauern bis ein neues Medikament auf den Markt kommt. Von den meist 20 Jahren Patentschutz bleiben nur noch wenige Jahre, in denen ein Pharmaunternehmen den Preis für ein Medikament festlegen und damit viel Geld verdienen kann.

In der Realität sieht es nämlich so aus: Sobald der Patentschutz eines Medikaments ausläuft, fluten am nächsten Tag diverse Generika (Nachahmerpräparate) des gleichen Medikaments den Markt. Und das zu günstigeren Preisen als das Original. Wegen der günstigeren Medikamentenpreise für Generika bekommen die forschenden Pharmaunternehmen weniger Geld für ihr eigenes Medikament. Aus diesem Grund versuchen Pharmaunternehmen die Ausgaben für die Entwicklung eines neuen Medikaments möglichst während der Laufzeit des Patentschutzes über den Medikamentenpreis zu erwirtschaften.

Zurück zu Zolgensma®: Warum ist dieses Medikament so viel teurer als andere Medikamente? Folgende Gedanken werden vermutlich in den Preis eingeflossen sein:

  • Die Entwicklung von Zolgensma® war sehr teuer. Die Kosten möchten Pharmaunternehmen schnell wieder verdienen.
  • Zolgensma® wirkt nicht gegen die Symptome einer Erkrankung, so wie die meisten anderen Medikamente, sondern heilt die spinale Muskelatrophie. Das bedeutet, dass das Pharmaunternehmen das Medikament pro PatientIn nur einmal verkaufen kann.
  • Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung. Entsprechend selten kann das Pharmaunternehmen Zolgensma® verkaufen.
  • In einigen Jahren läuft der Patentschutz ab. Danach dürfen Generika von Zolgensma® verkauft werden.
  • Zolgensma® ist ein besonderes Medikament. Es bietet den PatientInnen einen größeren Vorteil als die bisherigen Medikamente für spinale Muskelatrophie.

Ist der Preis für die Heilung einer schweren Erbkrankheit gerechtfertigt? Darüber lässt sich streiten.

Literaturverzeichnis

Presseüberschrift: https://www.dw.com/de/teuerstes-medikament-der-welt-gegen-erbkrankheit-zugelassen/a-48873448 (abgerufen am 06.09.2024)

Presseüberschrift: https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ist-dieses-medikament-zwei-millionen-dollar-wert/ (abgerufen am 06.09.2024)

Presseüberschrift: https://www.bild.de/bild-plus/ratgeber/2020/ratgeber/teures-medikament-wird-die-2-millionen-spritze-jetzt-billiger-71526590.bild.html (abgerufen am 06.09.2024)

Presseüberschrift: https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-02/spinale-muskelathrophie-zolgensma-losverfahren-medikamente (abgerufen am 06.09.2024)

https://rarediseases.org/rare-diseases/spinal-muscular-atrophy/ (abgerufen 06.09.2024)

https://www.pei.de/SharedDocs/schulungsmaterial/Zolgensma-Schulungsmaterial-Aerzte_Version-2_Leitfaden-Aerzte.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (abgerufen 20.09.2024)

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-51522016/zufallsfunde/ (abgerufen 20.09.2024)

Geisslinger, Gerd, et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen – Pharmakologie, klinische Pharmakologie, Toxikologie. 2020. Auflage 15.

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