Im Jahr 2019 machte das Medikament Zolgensma® Schlagzeilen als das teuerste Medikament der Welt (siehe Abbildung 1). Anders als die meisten Medikamente soll es nur ein einziges Mal bei Kindern mit spinaler Muskelatrophie angewendet werden und damit das Kind heilen. Eine Behandlung kostet über 2 Millionen Dollar.
Ob dieser Preis gerechtfertigt ist?
Um das einschätzen zu können, sollten wir uns erst einmal mit der Erkrankung spinale Muskelatrophie und dem Ablauf von Medikamentenentwicklungen beschäftigen.
Abbildung 1 Überschriften aus der Presse.
Was ist spinale Muskelatrophie?
Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erbkrankheit, bei der die Motoneurone im Rückenmark wegen eines Genfehlers ihre Funktionen verlieren. Dadurch kann das Gehirn keine Botschaften an die Muskeln weiterleiten, weshalb die Muskeln nach und nach verkümmern. Die Erkrankung kann bereits bei Neugeborenen diagnostiziert und somit frühzeitig behandelt werden. Von spinaler Muskelatrophie Betroffenen fällt es im Laufe der Zeit immer schwerer zu essen, zu schlucken, zu sprechen und zu atmen. Werden sie nicht behandelt, können sie innerhalb weniger Jahre sterben. Die spinale Muskelatrophie vom Typ 1 ist eine besonders schwere Variante, bei der erkrankte Kinder unbehandelt meist schon vor dem 2. Lebensjahr sterben.
Um dies zu verhindern, wurde Zolgensma® entwickelt. Bei dem Medikament handelt es sich um eine Gentherapie, bei der das defekte Gen durch eine funktionierende Kopie ersetzt wird. Dadurch kann der Körper wieder das Protein produzieren, das für die Kommunikation von Gehirn und Muskeln notwendig ist. Ziel ist es, die erkrankten Kinder vollständig zu heilen und ihre Muskelfunktionen wiederherzustellen. Die Entwicklung von Zolgensma® stellt daher einen großen Fortschritt dar. Doch wie finden Forschende heraus, welche Wirkstoffe für eine bestimmte Krankheit geeignet sind, und wie verläuft der Weg von der Idee zum fertigen Medikament?
Zufallsfunde
Manche lebensverändernden Medikamente wurden zufällig entdeckt. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Penicillin. 1928 untersuchte Sir Alexander Fleming Staphylokokken, als eine Probe durch Pilzsporen verunreinigt wurde. Er bemerkte, dass dort, wo der Pilz wuchs, keine Bakterien existierten. Weitere Experimente zeigten, dass der Pilz ein Gift produzierte, das die Staphylokokken abtötete. Jahre später rettete das Antibiotikum viele Menschenleben.
Weniger bekannt ist die Entdeckung eines neuen Einsatzgebietes für den Beta-Blocker Propranolol, der normalerweise bei Herzerkrankungen eingesetzt wird. Christine Léauté-Labrèze behandelte einen Säugling mit einem Hämangion im Gesicht, besser bekannt als Blutschwamm. Als der Säugling wegen Herzproblemen Propranolol erhielt, bemerkte die Ärztin, dass der Blutschwamm verblasste und schrumpfte. Heute ist Propranolol offiziell für diesen Zweck zugelassen.
Solche Zufallsfunde sind großartig und haben die Medizin vorangebracht. Doch allein auf Zufälle zu setzen, würde uns nicht die Vielzahl an Therapiemöglichkeiten bieten, die wir heute haben.
Wie werden Medikamente entwickelt?
Um neue Wirkstoffe zu finden könnte man einfach verschiedene Therapiemöglichkeiten bei den Erkrankungen auf gut Glück ausprobieren (Trial-and-Error-Prinzip). Doch das würde viel länger dauern als gezielt nach potentiellen Wirkstoffen zu suchen und es wäre teurer. Heutzutage wird an die Entwicklung von neuen Wirkstoffen sehr systematisch herangegangen. Und doch wird von knapp 10.000 Wirkstoffmolekülen nur 1 als neues Medikament zugelassen und in der Therapie von Erkrankungen eingesetzt.
Begonnen wird die Medikamentenentwicklung oft damit, dass mögliche Wirkstoffmoleküle am Computer designt werden. Dabei schauen sich WissenschaftlerInnen die Zielstruktur an, sogenannte Targets, an die der Wirkstoff binden und entsprechend wirken soll (dafür sollte der Mechanismus einer Erkrankung möglichst genau bekannt sein). Zu diesem Target passend werden Moleküle entworfen. Dieser Fachbereich nennt sich Molecular Modeling.
Im Anschluss werden die potentiellen Wirkstoffmoleküle im Labor hergestellt und die Wirkung inklusive möglicher Risiken geprüft. Um die Anzahl an Tierversuchen zu reduzieren, führen WissenschaftlerInnen möglichst viele Tests an isolierten Zellen, Zellkulturen, Enzymsystemen oder isolierten Organen durch. Das sind sogenannte Ersatzverfahren.
Daran schließen sich Tierversuche an, bei denen Forschende unter anderem prüfen, ob der Wirkstoff giftig ist, wenn er über einen längeren Zeitraum verabreicht wird und ob sich Parameter wie der Blutdruck, die Herzfrequenz etc. durch den Wirkstoff verändern.
Bevor ein Wirkstoff in der klinischen Prüfung an Menschen getestet wird, wird mit dem Wirkstoff eine Formulierung entwickelt. Das kann man sich ein bisschen wie ein Kochrezept vorstellen, für das man die Hauptzutat z.B. einen Kürbis hat und sich dann überlegt wie man diesen verarbeiten möchte: Als Ofengemüse, Püree, als Brot. Dafür benötigt man immer noch weitere Zutaten wie Öl, Milch und Mehl. Übertragen auf Medikamente sind das die Hilfsstoffe. Eine Tablette, Kapsel, ein Saft, aber auch Infusionslösungen und alles, was gespritzt wird besteht immer aus mindestens einem Wirkstoff und zusätzlich aus Hilfsstoffen.
Nun braucht man noch eine Anleitung um den Kürbis und die weiteren Zutaten zu verarbeiten — Kürbis waschen, schneiden, Ofen auf 180°C vorheizen, Kürbis 10 Minuten im Ofen backen, dann herausnehmen und pürieren und so weiter.
Bei der Medikamentenentwicklung beschäftigt sich die pharmazeutische Technologie damit, welche Hilfsstoffe am besten für die Herstellung des jeweiligen Medikaments geeignet sind, wie die Formulierung (Zutatenliste) eines Medikaments optimal zusammengesetzt und wie es hergestellt werden sollte (Zubereitungsanleitung).
Die klinische Prüfung
Bis zur klinischen Prüfungen schaffen es von den ursprünglichen 10.000 Molekülen nur 5-10 Moleküle (siehe Abbildung 2). Die klinischen Prüfungen Phase I bis IV sind gesetzlich vorgeschrieben, um zu beweisen, dass ein Medikament wirksam und sicher ist. Damit diese überhaupt durchgeführt werden dürfen, müssen sie genehmigt werden. Denn ab diesem Punkt werden Menschen die potentiellen Medikamente testen. Und dafür müssen gewisse Bestimmungen eingehalten werden.
In klinischen Prüfung Phase I erhalten im Normalfall junge gesunde Personen (ProbandInnen) das Medikament. Diese Studie dient dazu herauszufinden,
ob der Wirkstoff gut verträglich ist
ob der Wirkstoff im menschlichen Körper die gleiche Wirkung erzielt wie im tierischen (z.B. senkt den Blutdruck)
ob der Wirkstoff unerwartete Wirkungen im Körper hervorruft und daher vielleicht auch zur Behandlung anderer Erkrankungen in Frage kommt
welche Dosierungen des Wirkstoffs möglich sind
Erst ab der Phase II nutzen erkrankte Personen (PatientInnen) das Medikament. Dabei liegt der Fokus vor allem darauf, die richtige Dosierung zu finden, die Wirksamkeit nachzuweisen und festzustellen welche Nebenwirkungen auftreten können. Wenn die Phase-II-Studie erfolgreich ist und das Medikament die Erkrankung bessert, werden viele weitere PatientInnen in die Phase-III-Studie aufgenommen. Die Forschenden wollen dann herausfinden, ob das Medikament auch bei einer großen Gruppe von PatientInnen wirkt, auch bei Menschen mit mehreren Erkrankungen. Zudem werden sie untersuchen, ob weitere Nebenwirkungen auftreten, wenn das Medikament über einen längeren Zeitraum verabreicht wird.
Erst, wenn in der Phase-III-Studie gezeigt wurde, dass das Medikament wirksam und sicher ist und somit der Nutzen das Risiko für den Menschen überwiegt, darf dieses zugelassen werden. Dann steht es auch anderen Erkrankten zur Verfügung steht. Diesen Schritt schafft nur 1 von den ursprünglichen 10.000 Wirkstoffmolekülen.
Abbildung 2 Medikamentenentwicklung – von knapp 10.000 Molekülen wird nur 1 Molekül auf dem Markt als Medikament zugelassen (vgl. Geisslinger, Gerd, et al. Mutschler Arzneimittelwirkungen. 2020. Auflage 11. S. 155).
Was kostet die Medikamentenentwicklung?
Der ganze Prozess, beginnend mit der Wirkstoffentwicklung über die präklinischen Versuche bis zu den klinischen Studien Phase I bis III kostet die Pharmaunternehmen 1-2 Milliarden Euro.
Diese riesige Menge Geld wollen Pharmaunternehmen schnellstmöglich wieder einnehmen. Man könnte meinen, dass die Pharmaunternehmen viele Jahre Zeit haben, um so viel Geld zu verdienen, damit sich das neue Medikament für sie lohnt. Doch an der Stelle, an der ein Medikament zugelassen ist, von ÄrztInnen verschrieben werden kann und Pharmaunternehmen an dem Medikament Geld verdienen können, kommt das Patentrecht ins Spiel.
Hat ein Pharmaunternehmen einen neuen Wirkstoff entwickelt, lässt es sich den Wirkstoff patentieren. Folglich dürfen andere Pharmaunternehmen den Wirkstoff nicht herstellen und daraus ein Medikament entwickeln. Der Patentschutz gilt nur für eine begrenzte Zeit und beginnt bereits in einer frühen Phase der Medikamentenentwicklung. Es kann jedoch bis zu 15 Jahren dauern bis ein neues Medikament auf den Markt kommt. Von den meist 20 Jahren Patentschutz bleiben nur noch wenige Jahre, in denen ein Pharmaunternehmen den Preis für ein Medikament festlegen und damit viel Geld verdienen kann.
In der Realität sieht es nämlich so aus: Sobald der Patentschutz eines Medikaments ausläuft, fluten am nächsten Tag diverse Generika (Nachahmerpräparate) des gleichen Medikaments den Markt. Und das zu günstigeren Preisen als das Original. Wegen der günstigeren Medikamentenpreise für Generika bekommen die forschenden Pharmaunternehmen weniger Geld für ihr eigenes Medikament. Aus diesem Grund versuchen Pharmaunternehmen die Ausgaben für die Entwicklung eines neuen Medikaments möglichst während der Laufzeit des Patentschutzes über den Medikamentenpreis zu erwirtschaften.
Zurück zu Zolgensma®: Warum ist dieses Medikament so viel teurer als andere Medikamente? Folgende Gedanken werden vermutlich in den Preis eingeflossen sein:
Die Entwicklung von Zolgensma® war sehr teuer. Die Kosten möchten Pharmaunternehmen schnell wieder verdienen.
Zolgensma® wirkt nicht gegen die Symptome einer Erkrankung, so wie die meisten anderen Medikamente, sondern heilt die spinale Muskelatrophie. Das bedeutet, dass das Pharmaunternehmen das Medikament pro PatientIn nur einmal verkaufen kann.
Die spinale Muskelatrophie ist eine seltene Erkrankung. Entsprechend selten kann das Pharmaunternehmen Zolgensma® verkaufen.
In einigen Jahren läuft der Patentschutz ab. Danach dürfen Generika von Zolgensma® verkauft werden.
Zolgensma® ist ein besonderes Medikament. Es bietet den PatientInnen einen größeren Vorteil als die bisherigen Medikamente für spinale Muskelatrophie.
Ist der Preis für die Heilung einer schweren Erbkrankheit gerechtfertigt? Darüber lässt sich streiten.
Studien zeigen, dass alternative Heilmethoden nicht stärker als Placebos wirken. Trotzdem sind viele Menschen von deren heilender Wirkung überzeugt. Und auch die Wirkung von Placebopräparaten ist nicht zu unterschätzen.
Die Einen schwören auf sie, die Anderen halten sie für überflüssig. In Gesprächen über alternative Heilmethoden kommt irgendwann der Punkt, an dem darüber diskutiert wird, ob diese selbst wirken oder die Wirkung nur auf dem Placeboeffekt beruht. Unter anderem aus diesem Grund geistern die Begriffe Placebo- und Noceboeffekt immer wieder durch die Presse. Besonders häufig werden sie auch im Zusammenhang mit Medikamentenstudien verwendet. Doch was verbirgt sich dahinter?
Das Wort Placebo stammt aus dem Lateinischen und bedeutet ich werde gefallen. Nocebo bedeutet ich werde schaden. Placebo ist also etwas Gutes, Nocebo etwas Schlechtes. Wenn Scheinmedikamente, sogenannte Placebos (siehe Kasten), körperliche oder psychische Beschwerden bessern, spricht man vom Placeboeffekt. Dabei können die Beschwerden sogar um bis zu 50 % reduziert werden. Der Noceboeffekt bewirkt das Gegenteil.
Aufgefallen ist der Placeboeffekt dem Amerikaner Henry Beecher zum Ende des zweiten Weltkrieges. Als ihm das Morphin ausging, spritzte er den Soldaten für die Operationen stattdessen Kochsalzlösung, natürlich ohne deren Wissen. Die Soldaten beruhigten sich und reagierten ähnlich wie die Soldaten, die Morphin erhalten hatten. Das machte Beecher neugierig. Er führte nach Kriegsende verschiedene Experimente durch und kam dem Placeboeffekt weiter auf die Spur.
In der heutigen Zeit wird der Placeboeffekt häufig als Einbildung beschrieben. Wer nicht daran glaubt, dass etwas hilft, dem wird es nicht helfen! Doch so einfach ist das nicht. Denn der Placeboeffekt wirkt auch, wenn PatientInnen wissen, dass sie ein Scheinmedikament erhalten. Die Wirkung fällt dann allerdings geringer aus. Bei Kindern und Tieren wirkt der Placeboeffekt ebenfalls, weil sich die Erwartungshaltung anderer auf die Kinder und Tiere überträgt.
Begriffserklärungen Placebo: Sieht aus wie ein Medikament, enthält aber keinen Wirkstoff. Morphin: Wirkstoff gegen starke Schmerzen aus der Klasse der Opioide. Opioid-Antagonist: Wirkstoff, der die Opioidrezeptoren im Körper besetzt und so die Wirkung der Opioide verhindert.
Wurde PatientInnen gesagt, dass sie gegen ihre Schmerzen Morphin (siehe Kasten) bekommen, konnte der Placeboeffekt mit einem Opioid-Antagonisten (siehe Kasten) aufgehoben werden. Das zeigt, dass durch den Placeboeffekt körpereigene Opioide ausgeschüttet werden, die an die Opioidrezeptoren binden und Schmerzen lindern. Der Placeboeffekt aktiviert also natürliche Vorgänge des Körpers, die wissenschaftlich nachweisbar sind. Die Wirksamkeit von Placebos ist aus vielen Bereichen bekannt, besonders aus der Schmerztherapie. Aber auch Parkinsonsymptome lassen sich damit bessern.
Die Wissenschaft geht noch weiter. In Untersuchungen wurde herausgefunden, dass die Art des Placebos die Stärke des Placeboeffekts beeinflusst. Zum Beispiel werden Kapseln als stärkeres Medikament wahrgenommen als Tabletten. Spritzen übertreffen dies noch. Generell wird ein Medikament, das gespritzt wird, als stärker wirkend wahrgenommen als Tabletten, Kapseln oder Säfte. Daher lindern wirkstofffreie Spritzen die Symptome bei den PatientInnen stärker als Tabletten. Außerdem hat die Farbe einen Einfluss. Forschende fanden heraus, dass PatientInnen mit Angstsymptomen besser auf grüne Tabletten ansprechen als auf andersfarbige Tabletten.
Können Placebos im Alltag nützlich sein?
Davon, wie hilfreich Placebos im Alltag sein können, erzählte mir ein befreundeter Apotheker. Bei seinem Ansatz geht um Schlafstörungen. Denn gerade verschreibungspflichtige Schlafmittel werden in Apotheken häufig an ältere Personen abgegeben. Das kann problematisch werden, weil die Medikamente das unsichere Gehen verstärken können und somit die Gefahr steigt zu stürzen. Zusätzlich besteht bei älteren verschreibungspflichtigen Schlafmitteln, den Benzodiazepinen, das Risiko der Abhängigkeit. Deshalb sollen diese nicht länger als vier Wochen eingenommen werden. Genau dort liegt das Problem: Viele PatientInnen nehmen die Schlafmittel über Monate oder Jahre und müssen die Dosierung eventuell erhöhen, um dauerhaft gut schlafen zu können. Sie sind abhängig. Zudem brauchen ältere PatientInnen täglich oft mehr als ein Medikament. Diese können mit den Schlaftabletten interagieren.
Für solche Fälle sieht mein Freund Placebos als mögliche Alternative: „Gelegentlich verschreiben Ärzte älteren Menschen mit Schlafstörungen Placebopräparate, um sie von Schlaftabletten zu entwöhnen. Diese sehen wie normale Tabletten aus und helfen ihnen, trotzdem besser zu schlafen.“
Selbsterfüllende Erwartungen
Wie bei klassischen Therapien, können auch bei wirkstofffreien Mitteln Nebenwirkungen auftreten. Wie drastisch diese ausfallen können, zeigt der Fall eines 26 Jahre alten Mannes: Der Mann schluckte 29 Kapseln eines vermeintlichen Antidepressivums. Dabei sank sein Blutdruck stark, er atmete schnell und zitterte. Die ÄrztInnen in der Notaufnahme versuchten ihm mit verschiedenen Therapien zu helfen, doch nichts wirkte. Während dieser Zeit kam heraus, dass der Mann an einer Medikamentenstudie für Antidepressiva teilnahm und der Placebogruppe zugeteilt war. Die behandelnden ÄrztInnen teilten dem jungen Mann mit, dass er wirkstofffreie Kapseln eingenommen hatte. Daraufhin verbesserte sich sein Zustand innerhalb von 15 Minuten. Dieses Beispiel zeigt, dass die Wirkung von Scheinbehandlungen, sei sie positiv oder negativ, auf zwei Säulen fußt, der körperlichen wie auch der psychischen.
Die Wirkung von Therapien wird meist mit einer gewissen Erwartungshaltung in Verbindung gebracht. Der Wissenschaftler Herbert Benson sieht die Erwartungshaltung in drei Bereichen als wichtig für den Erfolg einer Therapie an:
Die Erwartungshaltung der PatientInnen (bin ich zuversichtlich, dass die Therapie hilft?)
Die Erwartungshaltung der Behandelnden (ist der/die ÄrztIn oder der/die ApothekerIn von der Therapie überzeugt?)
Die Beziehung zwischen PatientIn und Behandelnden (halte ich den/die ÄrztIn für kompetent?)
Dass die Erwartungshaltung von PatientInnen in seltenen Fällen sogar zum Tod führen kann, zeigt die Stärke der menschlichen Psyche. Es ist eine sehr tiefgreifende Wirkung des Noceboeffekts. Verschiedene WissenschaftlerInnen berichteten von PatientInnen, die von ihrem baldigen Tod überzeugt waren, obwohl es keinen medizinischen Grund dafür gab. Diese Menschen starben bald darauf.
Es zeigt uns, dass wir die Macht der Psyche nicht unterschätzen sollten und wir mit unserer Einstellung natürliche Vorgänge des Körpers in Gang setzen, die sich positiv oder negativ auswirken können. Wir können Wohlbefinden erzeugen und uns in einem gewissen Maß selbst heilen oder Krankheit erzeugen, die sogar zum Tod führen kann. Diese Auswirkungen sind der Grund, warum in der Wissenschaft die Wirkung von Medikamenten mit der Wirkung von Placebos verglichen wird. Lässt sich in Medikamentenstudien keine Wirkung nachgewiesen, die größer ist als Wirkung des Placebos, gilt das Medikament wirkungslos. Genau das trifft auf viele alternativen Heilmethoden zu.
Literaturverzeichnis
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Paracetamol ist ein häufig genutztes Arzneimittel gegen Schmerzen, Fieber oder Erkältungssymptome. Doch schon Paracelsus wusste, dass die Dosis das Gift macht.
Paracetamol wirkt schmerzlindern und fibersenkend und gehört zur Klasse der nicht-opioiden Analgetika, weil der Wirkstoff nicht durch Bindung an die Opioidrezeptoren im Körper wirkt. Der Wirkstoff gibt es freiverkäuflich, ohne Rezept, in den Apotheken zu kaufen. Er kommt alleine oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen z.B. in Erkältungsmitteln vor. Doch nur, weil ein Arzneimittel freiverkäuflich in der Apotheke zu kaufen ist bedeutet dies nicht, dass das Arzneimittel völlig bedenkenlos eingenommen werden kann. Denn ein Arzneimittel kann aus unterschiedlichen Gründen aus der Verschreibungspflicht entlassen werden, auch aus wirtschaftlichen.
Nicht grundlos wurde Paracetamol ab einer Packungsgröße von mehr als 20 Tabletten der Verschreibungspflicht unterstellt. Doch warum eigentlich?
Mit gutem Beispiel voran
Bevor Deutschland größere Paracetamolpackungen der Verschreibungspflicht unterstellte, machten es andere Länder wie Großbritannien und Frankreich vor. In Großbritannien wurde bereits 1998 die Menge an Paracetamol pro freiverkäuflicher Packung begrenzt. In den folgenden Jahren gingen die Suizide, die mit Paracetamol verübten wurden, zurück.
Daran nimmt sich Deutschland ein Beispiel. Mit dem Ziel, die Suizidanzahl zu reduzieren, die mit Paracetamol verübt wird, können wir seit 2009 Paracetamol nur in Mengen von bis zu 20 Tabletten pro Packung rezeptfrei in der Apotheke kaufen. Aus demselben Grund ist das Apothekenpersonal dazu angehalten möglichst nicht mehrere Packungen an einen Kunden zu verkaufen, bzw. nachzufragen weshalb mehr als eine Packung benötigt wird. Das Apothekenpersonal kann dann individuell entscheiden, ob es gerechtfertigt ist mehrere Packungen abzugeben.
Paracetamolvergiftung – Ein langsamer Tod
Jedes Jahr begehen Menschen Suizid, bei einem Teil von ihnen bleibt es beim versuchten Suizid. Einige Menschen schlucken viele Tabletten und wollen damit möglichst schmerzfrei sterben. Doch nicht immer gelingt dieses Unterfangen. Denn wenn jemand viele Paracetamoltabletten auf einmal schluckt, winkt nicht der schnelle Tod. Diese Person kann sich mit zu viel Paracetamol vergiften und ganz langsam sterben. Ein gesunder Erwachsener kann nach der Einnahme von mehr als 10 g Paracetamol auf einmal sterben. Dieser Menge gilt gemeinhin als tödlich. Eine vorgeschädigte Leber, Magersucht oder andere Erkrankungen können dafür sorgen, dass eine Vergiftung schon bei einer geringeren Menge als 10 g eintritt.
Das Abbauprodukt des Paracetamols mit dem klangvollen Namen N-Acetyl-p-benzochinonimin wirkt hepatotoxisch. Es wird nur ein geringer Anteil des Paracetamols zu diesem toxischen Stoff abgebaut. Für den menschlichen Körper ist die Menge des toxischen Abbauprodukts meist harmlos. Denn normalerweise sorgt das Glutathion aus der Leber dafür, dass es unschädlich gemacht wird. Doch ist zu viel von dem Giftstoff vorhanden, weil zu große Mengen an Paracetamol eingenommen wurden, reichen die Vorräte an Glutathion nicht aus. Daher greift das N-Acetyl-p-benzochinonimin Strukturen wie Proteine, DNA und ungesättigte Fettsäuren an, was weitere Reaktionen zur Folge hat – die Leberzellen können absterben.
Eine Paracetamolvergiftung macht sich je nach Vergiftungsstadium unterschiedlich bemerkbar. Innerhalb der ersten 24 Stunden kann es üblicherweise zu Appetitverlust, Übelkeit und Erbrechen kommen. In den folgenden Tagen steigern sich die Symptome, es kommen Schmerzen im rechten Oberbauch dazu. Die Vergiftung macht sich in steigenden Werten der Enzyme AST und ALT, abfallenden Gerinnungsfaktoren und ansteigendem Bilirubin bemerkbar. Im 3. Stadium (3. – 4. Tag) können Ikterus (Gelfärbung der Haut und Schleimhäute), metabolische Azidose (Übersäuerung des Blutes), Unterzuckerung, erhöhte Blutungsneigung, Leberversagen und hepatische Enzephalopathie (Funktionsstörung des Gehirns) auftreten. Nach knapp 5 Tagen hat sich die Leber entweder wieder erholt oder die Vergiftung kann zum Multiorganversagen und somit zum Tod führen.
Die Gefahr eines langsamen und qualvollen Todes durch eine Paracetamolvergiftung ist kaum bekannt. Einer meiner ehemaligen Dozenten an der Uni warnte uns, dass ein Suizidversuch mit Paracetamol eine sehr schlechte Idee sei. Unbehandelt würde man qualvoll sterben. Bereut man den Versuch und die Lebervergiftung ist bereits weit fortgeschritten, kann man nicht auf eine Organspende hoffen. Nicht-suizidgefährdete Menschen haben Vorrang. Der Suizidversuch lässt sich also nicht rückgängig machen. Er endet in einem Suizid, aber nicht schnell und schmerzlos.
Therapie
Doch soweit muss man es nicht kommen lassen. In den ersten paar Stunden nachdem zu viel Paracetamol eingenommen wurde, kann zuerst eine Therapie mit Aktivkohle versucht werden. Es bindet das giftige N-Acetyl-p-benzochinonimin aus dem Darm und schleust es über den Stuhl aus dem Körper.
Außerdem gibt es ein Gegenmittel – ein Antidot: Es trägt den Namen N-Acetylcystein und wird hochdosiert als Infusion gegeben. Bei dem N-Acetylcystein handelt es sich um eine Aminosäure. Sie ist ein Vorläufer des Glutathions und wird im Körper zu diesem umgewandelt.
Doch es ist sehr wichtig, dass man das Antidot so früh wie möglich nach der Vergiftung erhält. Liegt die Vergiftung länger als 24 Stunden zurück ist nicht gesichert, ob N-Acetylcystein überhaupt noch etwas gegen die Vergiftung ausrichten kann. Denn das N-Acetylcystein kann nur verhindern, dass weitere Leberzellen geschädigt werden. Es kann jedoch keine Leberzellen heilen. Bei zu vielen geschädigten Leberzellen kann das N-Acetylcystein nichts mehr ausrichten.
Voten des Sachverständigen-Ausschusses für Verschreibungspflicht nach § 53 AMG. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte; https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Arzneimittel/Pharmakovigilanz/Gremien/Verschreibungspflicht/60Sitzung/anlage.pdf?__blob=publicationFile(Stand: 02.10.2022)
Paracetamolvergiftungen. MSD Manual Ausgabe für medizinische Fachkreise; https://www.msdmanuals.com/de-de/profi/verletzungen,-vergiftungen/vergiftung/paracetamolvergiftungen (Stand: 27.09.2022)
Hawton K et. al. Long term effect of reduced pack sizes of paracetamol on poisoning deaths and liver transplant activity in England and Wales: interrupted time series analyses. BMJ. 2013 Feb 7;346:f403.